Gipfelgespräche und Stammtischlegenden
Die spektakulärsten Erlebnisse und schönsten Momente eines Bergretters im Ruhestand, vom schroffen Gipfel bis zum gemütlichen Stammtisch.
Ich habe Armin eingeladen, mir zu erzählen, welche Erlebnisse ihn in seiner Zeit als Bergretter am meisten bewegt, herausgefordert und beeindruckt haben und wann er selbst seine Grenzen erfahren hat.
Der erfahrene Bergretter Armin Lingg, ein Allgäuer Original, zu Hause in den Bergen rund um Oberstaufen Steibis, feiert im Februar 2024 seinen 75. Geburtstag.
Mehr als fünf Jahrzehnte im Dienst der Bergwacht zeugen von großer Hingabe und Leidenschaft für die Menschen und die Berge.
Nimm dir eine Auszeit vom hektischen Berufsalltag und gehe wandern, auch alleine. Du wirst schnell spüren, wie sich Bewegung und frische Luft auf deine eigene Leistungsfähigkeit auswirken.
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Eine Tragödie am Nikolaustag
Eine Erkenntnis über die Tücken des Wintersports.
Elmar: Du hast in Deiner langen Zeit bei der Bergwacht viel erlebt. Gibt es ein besonderes Ereignis, das Dir besonders nahe ging und von dem wir heute noch lernen können?
Armin: Ich erinnere mich noch gut an diesen Tag, den 6. Dezember. Es war der Tag, an dem der Nikolaus zu meinen Kindern kam, ein Tag, an dem die Freude zu Hause und die Schwere des Erlebten im Einsatz in schmerzlichem Kontrast standen. Ich erinnere mich an einen jungen Arzt aus München, der mit seiner Frau und dem gemeinsamen Baby Urlaub im Allgäu machte. Er war Skifahren am Imberg.
Armin: Es war gegen 16 Uhr, als er sich entschloss, noch einmal die Piste vom Fluhexpress hinunter zum Berggasthof Hochbühl zu fahren. Es war ein perfekter Tag für Wintersportler – frischer Pulverschnee bedeckte die Landschaft wie Puderzucker, ein Traum für jeden, der die Freiheit im Tiefschnee sucht. Dieser Mann war auf seinem Snowboard unterwegs, bereit, den Hang hinunterzusausen.
Tödliche Falle im Winterparadies
Armin: Ohne genaue Kenntnis des Geländes fuhr er am Berggasthof Hochbühl vorbei und setzte seine Fahrt talwärts fort. Dabei geriet er in eine Vertiefung, die mit stark verwehtem Schnee gefüllt war. Plötzlich fand er sich brusttief im Schnee gefangen, ohne Möglichkeit, sich zu befreien und zum Berggasthof zurückzugehen. Das Snowboard erweist sich im Tiefschnee als unpraktisch für die Fortbewegung.
Armin: In der Hoffnung, einen Weg ins Tal zu finden, stieg er weiter ab, gelangte aber nur in ein noch unwirtlicheres Gebiet, ein felsdurchsetztes Bachbett. Nach einem vermuteten Sturz in diesem unwegsamen Gelände kämpfte er verzweifelt weiter, bis seine Kräfte nachließen und er an Erschöpfung starb.
Seine Frau alarmierte die Bergwacht, weil er nicht vom Skifahren zurückkam, um 19:00 Uhr wurde er tot aufgefunden.
Jenseits der Lawinengefahr
Breites Spektrum winterlicher Risiken.
Armin: Im Winter lauern viele Gefahren, die über die Lawinengefahr hinausgehen. Auch Stürze und Erschöpfung sind ernst zu nehmende Bedrohungen. Im Tiefschnee kommt man ohne Ski nicht weiter.
Aus diesem tragischen Vorfall lassen sich wichtige Sicherheitshinweise ableiten:
1) Am ursprünglichen Standort bleiben: Die Bergrettung hätte ihn lebend gefunden und das Risiko eines Absturzes im felsigen Gelände wäre geringer gewesen.
2) Die eigenen Kräfte realistisch einschätzen: Auch der Arzt überschätzte seine Kräfte und bezahlte am Ende mit seinem Leben.
3) Nicht in unbekanntes Terrain vordringen: vor allem im alpinen Bereich, auch rund um den Imberg.
Bleiben wo man ist
Wie Handy-Ortung Leben rettet.
Armin: Heute, mit der Möglichkeit der Handy-Ortung, ist es besonders wichtig, dass man an dem Ort bleibt, wo man den Notruf abgesetzt hat. Das ermöglicht es den Rettungskräften, einen viel schneller und präziser zu lokalisieren.
Jede Bewegung weg vom ursprünglichen Ort kann die Rettungsaktion komplizierter machen und wertvolle Zeit kosten. Es ist essenziell, dass man nach dem Absetzen des Notrufs Ruhe bewahrt und auf die Hilfe wartet, die dank der Technologie von heute schneller denn je kommen kann.
Von Erfahrung lernen
Nachbesprechungen und psychologische Betreuung.
Armin: Die umfassende Nachsorge ist ein wesentlicher Fortschritt in der Betreuung unserer Bergretter. Neben der psychologischen Betreuung, die den Helfern hilft, das Erlebte zu verarbeiten, ermöglichen die regelmäßigen Nachbesprechungen eine kontinuierliche Verbesserung der Einsatzabläufe. Dabei werden Details des Einsatzes analysiert, Strategien besprochen und mögliche Verbesserungen vorgeschlagen.
Diese Vorgehensweise fördert nicht nur das Wohlbefinden der Einsatzkräfte, sondern erhöht auch die Effizienz und Sicherheit zukünftiger Rettungseinsätze. Indem jeder Einsatz als Lernmöglichkeit betrachtet wird, entsteht ein Klima des kontinuierlichen Lernens und der Anpassung, das letztlich dazu beiträgt, mehr Leben zu retten.
Zwischen Pflicht und Leichtsinn
Vom Hochäderich bis zum Seelekopf.
Elmar: Welche Momente oder Erlebnisse haben dich in deiner Zeit bei der Bergwacht am meisten bewegt?
Armin: Zwei Ereignisse haben mich besonders geärgert: die strengen Grenzkontrollen während der Corona-Pandemie und der Leichtsinn mancher Freerider.
Ein bemerkenswerter Vorfall ereignete sich während des Corona-Lockdowns. Zwei junge Leute, Anfang 20, hatten sich auf der Hochhäderichhütte verabredet, da die üblichen Wege für ein Treffen gesperrt waren. Die Staatsgrenze, sonst nur ein Strich auf der Landkarte, wurde plötzlich zur unüberwindbaren Barriere, überwacht von Infrarotkameras aus der Luft – ein Szenario, das ich mir vorher nie hätte vorstellen können.
Tragödie an der Staatsgrenze
Ein Notfall im Schatten der Corona-Maßnahmen.
Armin: Die Situation eskalierte, als der junge Mann nicht am vereinbarten Treffpunkt erschien. Sein Skistock wurde auf dem Grat an der Staatsgrenze auf einem Sommerweg gefunden, was eine intensive Suche auslöste. Schließlich wurde er nur 100 Meter hinter der Grenze gesichtet.
Doch die absurde Realität der Grenzschließung machte eine Rettung unmöglich: Die deutschen Bergretter durften die Grenze nicht überschreiten, um ihn zu bergen. Auch der Hubschrauberpilot hätte seine Lizenz riskiert, wenn er zum Unglücksort geflogen wäre, um den zu diesem Zeitpunkt bereits toten jungen Mann zu bergen.
Armin: Diese strikten Grenzschließungen während der Corona-Zeit haben in mir eine tiefe Frustration und Verärgerung ausgelöst.
Waghalsigkeit
Freerider ignorieren höchste Lawinengefahr.
Armin: „Du kannst gleich hier bleiben“, rief ich (natürlich im Allgäuer Dialekt) dem Piloten zu. Es herrschte höchste Lawinenwarnstufe, zwei Hubschrauber waren im Einsatz, um Verletzte zu bergen.
Armin: Und dann, trotz aller Warnungen, der pure Wahnsinn: Eine Gruppe von Freeridern entschloss sich, unterhalb des Seelekopfes in den Kessel einzufahren. Nicht nur, dass sie die Warnungen ignorierten, sie filmten ihr waghalsiges Unterfangen auch noch mit einer Helmkamera. Doch damit nicht genug: Abends luden sie das Video auf Youtube hoch, stolz darauf, die Gefahren überstanden zu haben. Sie hielten sich für Helden – ”es ist ja nichts passiert”.
Armin: Mich ärgert so ein Leichtsinn zutiefst. Es ist nicht nur eine Missachtung der eigenen Sicherheit, sondern auch eine Belastung für die Einsatzkräfte und die ganze Gemeinde. Es zeugt von mangelndem Respekt gegenüber der Natur, den von ihr ausgehenden Gefahren und den Menschen, die ihr Leben riskieren, um anderen zu helfen.
Gefahr im Dunkeln
Eine unvergessliche Bergrettungsaktion.
Armin: Was mich in meiner Zeit als Bergretter wohl am meisten beeindruckt hat, war ein Einsatz, bei dem eine größere Anzahl von Menschen aus einer Berghütte evakuiert werden musste. Sie waren abends auf der Hütte plötzlich erkrankt, lebensbedrohlich dehydriert und hatten unwissentlich andere Gäste angesteckt.
Ich erinnere mich noch gut an die Schlagzeilen von damals. Der Hüttenwirt war unschuldig. Die Wanderer hatten unterwegs Wasser aus einer Quelle getrunken und ihre Trinkflaschen aufgefüllt, ohne zu ahnen, dass sie damit gefährliche Bakterien in die Hütte brachten. Trotz seiner Unschuld wurde der Hüttenwirt Opfer einer ungerechtfertigten Negativpropaganda.
Armin: Eine Bergung mit Fahrzeugen war in diesem abgelegenen Gebiet nicht möglich. Die einzige Lösung war, alle Betroffenen mit dem Hubschrauber zu evakuieren. Doch die Rettung dauerte bis in die Dunkelheit, was ein großes Problem darstellte: Die Maschine, ein Bell-U-Hubschrauber, war nicht für Nachtlandungen ausgerüstet, wie sie heute üblich sind.
Teamarbeit im Dunkeln
Lebensrettende Landung.
Armin: In dieser prekären Situation mussten wir improvisieren. Ein Kollege und ich legten uns rechts und links des vorgesehenen Landeplatzes auf den Boden und leuchteten mit unseren Taschenlampen in den Himmel. Der Pilot, ein Meister seines Fachs, flog in die Mitte der beiden Lichtquellen und setzte die Maschine sicher im stockdunklen Gelände auf.
Armin: Diese Nacht, in der wir mit einfachsten Mitteln Leben gerettet haben, war zweifellos eine der spannendsten meiner Karriere. Die Präzision und das Können des Piloten, das Zusammenspiel des Teams am Boden – all das hat mich tief beeindruckt und gezeigt, wie wichtig Teamwork und schnelles Denken in Extremsituationen sind.
Am Limit
Abenteuer und Anekdoten.
Elmar: Bei unserer Tour auf das Portlahorn sind wir auch an unsere Grenzen gegangen und haben einen steilen Hang erklommen. Seid ihr auch ab und zu ans Limit gegangen?
Armins Gesicht erhellt sich, ein verschmitztes Lächeln breitet sich aus, als er die nächste Geschichte anstimmt: Stammtischlegenden?
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Armin: Unser Ausbilder war ein Mann der klaren Worte und Prinzipien. „Ich will keinen von euch im Bergwachtpulli die Farnach runterfahren sehen“ sagte er immer wieder. Er wusste genau, wie verlockend und gefährlich die Abfahrten sein konnten, vor allem die vom Hochgrat.
Armin: Das Bild zeigt die Abfahrt vom Hochgrat. Diese Strecke ist besonders tückisch, sehr steil und verlangt auch von erfahrenen Skifahrern höchste Aufmerksamkeit. Doch Waldi hat das Risiko genau abgewogen und nicht unvorbereitet gehandelt, sondern sich intensiv auf diesen Moment vorbereitet.
Er hat auf perfekte Schneeverhältnisse gewartet, das Wetter genau beobachtet und den idealen Zeitpunkt gewählt: Frühling, Firnschnee, genau um 11 Uhr vormittags.
Er lacht herzlich, als er fortfährt.
Armin: Und dann hat Waldi als kleine Rebellion und mit einem Augenzwinkern in Richtung unseres strengen Ausbilders beschlossen, die Abfahrt mit nacktem Oberkörper zu wagen.
Wir haben ein Foto davon gemacht und es unserem Ausbilder geschickt – technisch gesehen ist er die Farnach ja nicht im Bergrettungspullover gefahren!
Armin: Diese Anekdote zeigt nicht nur die Kameradschaft und den Humor, die in solch anspruchsvollen Berufen notwendig sind, sondern auch den Respekt und die Verbundenheit, die die Mitglieder der Bergwacht untereinander und mit ihren Mentoren pflegen.
Vom Berg zur Heimatpflege
Armins abwechslungsreiche Tage nach der Bergwacht.
Armin: Das Foto zeigt den Blick von meiner Ranch auf den Hochgrat – mein persönliches Refugium in meinem Garten. Hier genieße ich die Ruhe und die Schönheit der Natur. Aber ich sitze nicht nur da und schaue mir die Berge an.
Armin: Zusammen mit Anita betreibe ich drei Ferienwohnungen, die ich an Urlauber vermiete. Aber das ist noch nicht alles. Ich bin Heimatpfleger der Gemeinde Oberreute. Es ist eine arbeitsintensive Aufgabe, aber es ist mir eine Herzensangelegenheit, zum Erhalt unserer Kultur und Tradition beizutragen. Es hält mich auf Trab und verbindet mich mit den Wurzeln unserer Gemeinschaft.
Elmar: Ich möchte euch noch auf einen Beitrag im Bayrischen Fernsehen vom Sonntag 04.02.2024 aufmerksam machen: Ab Minute 28:55 seht ihr Armin im Interview.